Kostproben

Blauer Fünfer

    Dich, der du, hockend, und in Unterhosen,
    die Milka-Werbung oder Alt-Partien
    aus Bach- und Mendelssohnkantaten pfiffest,
    wobei sich knirschend unter deinen Händen
    ein Haufen loser Teile in ihr Schicksal,
    zur Form zu werden, zur stabilen Masse,
    und wie stabil, das sollte sich erweisen
    an Jungfernflügen, tollkühn, Treppe abwärts,
    zum Raumschiff nämlich, Weltraumraumschiff, Flagschiff,
    zu werden, fügte, wie nur eins sich fügt,
    weil es zu jeder Zeit sich hält und löst,
    dich bitt ich: bau mir einen Sarg aus Lego.

Noch bin ich nicht bereit, hineingelegt
zu werden, wie ein Legomännchen, kraft-
und willenloser Sklave derer, die
es setzen, wo es sitzen soll, es hintun,
wo es dann rumliegt, die ihm Körperteile
entnehmen und verpflanzen, wie’s beliebt …
noch weiß ich zu bestimmen, was mein Arm tut,
mein Bein, noch sage ich: hier stehe ich,
und kann wohl anders, doch ich wünsch’ mir hiermit
für and’re Zeiten einen Sarg aus Lego.

    Das selbst aus wieder andern Zeiten stammt,
    wie diese Ziegelsteine, ehrliche
    Gesellen, klumpig, rot und weiß, das war’s.
    Vielleicht noch Platten, vier mal acht, und nun
    sieh zu, was du dir damit baun kannst.
    Die erbten wir von unseren Geschwistern.
    Verwendeten sie spärlich, wie antikes
    Gemäuer, denn was suchen Ziegelsteine
    in einem Raumschiffcockpit, Holodeck?
    Wir rissen uns um raffinierteres.
    Scharniere, Kugellager, grüne Fenster.
    Die müssen nicht in meinen Sarg aus Lego.

Wir träumten über prallen Katalogen
von den Modellen über hundert Mark.
Und wirklich häufte sich behaglich Reichtum
an funkelnden, erlesenen Juwelen.
Doch selten war uns neuestes das Beste.
Und mit Besorgnis überwachten wir
den Fortschritt, sahen deutlich die Gefahren.
Wir fanden in den jeweils neusten Kästen,
die sich bei Vedes und Pinocchio
bis an die Decke stapelten, die Teile
stets größer vor, die Anzahl aber schrumpfend,
und huben an zu düsteren Prognosen:
„Vom Lego lernten wir, daß alles fließe.
Es kommt der Tag, da lehrt’s uns hen kai pan.“
(O.k., vielleicht mit etwas andern Worten:
„Die machen irgendwann nochmal ne Packung
mit einem riesen Legostein drin, Alter!“)
So ward uns Lego Weltbild, strukturierte
Vision, ein Universum, dessen bunte,
quadratische Atome wir erfaßten,
und dessen Bauplan wir ja erst entwarfen.
Doch uns’re Schöpfungen erschöpften sich
in Mondzentralen und Galaxisdrohnen.
Wir bauten auch nicht Rom an einem Tag.
Als unser Geist über den Eimern schwebte,
am Anfang war, bei Gott war, Gott war, Wort war,
da blieb er Geist und wurde nicht Substanz.
Wie oft erwachte ich des nachts, um zaghaft
mir meine Kopfhaut abzutasten, ob
da unter meinem Haar ein Schriftzug kantig,
kursiv, erhaben, – ein lateinischer? –
hervortrete, mich zu bezeichnen, ja
mir einen Stammbaum nachzuweisen in
gerader Linie, meines Zeichens Plastik
von deinem Plastik, gelb von deinem gelb.
Doch was ich fühlte, war organisch, knetbar,
gefügig keiner Paßform, keinen Stein
zu halten im Begriffe, selber haltlos,
unförmig aufgeschwemmte Körpermasse.
Laß mich denn einst, wenn ich mich nicht mehr fühle,
nur eines fühlen: einen Sarg aus Lego.

    Scheint dir dies zu profan, zu wenig edel,
    verbau nur blaue Fünfer, die sind rar.
    Die fünfhebigen, schmalen, nimm nur diese,
    dann wird man wohl zusammenlegen müssen,
    in der Verwandtschaft, im Bekanntenkreis,
    „Habt ihr noch blaue Fünfer?“ wird man fragen,
    so ungerade, mittellange, blaue?
    Was haben wir gesucht nach blauen Fünfern!
    Und von den Wänden widerhallte nur
    die alte Litanei „Mir fehlt ein Stein“
    Ich wünsche mir für meine Prozession
    als Grabmusik die Titelmelodie
    von den drei ???. Die verstand
    den Jammer uns’rer Ausweglosigkeit
    zu übertönen, so soll’s wieder sein.

„Mir fehlt ein blöder Stein, ein Stein fehlt mir!“
Unzählig variierte Kantilene
zu einem wuchtigeren Bassbordun:
dem lärmenden Gewühle in den Tiefen
der Lego-Eimer, zornig steile Brandung,
die uns die Finger wundwusch, bis uns endlich
kurz ein Stücks Grund aufblitzte, um sogleich
von schweren Massen rings wie eine wenig
geliebte Wahrheit krachend zugeschüttet
zu werden, uns den unschuldigen Glauben
rückzuerstottern an Unendlichkeit,
an unbegrenzte Menge, fast als solle
auf jetzt und immerdar vergraben werden
das Wissen von der Wand und von der Grenze,
von unbenopptem Boden, den man doch betrat.
Ich werde ihn erneut betreten.
Zuletzt wird man mich waagerecht verfrachten,
hinunterlassen, bis dann über mir
zusammenströmt der haufenweise Kosmos,
die Welt, die uns zusammenkracht, so oft
wir sie errichten; doch von drinnen wird es
ein Regenschauer sein, der über’s Dach geht,
kein Anlaß zur Besorgnis. Denn ich liege
in einem grundsoliden Legosarg.
Es sind nur uns’re eigenen Konstrukte,
die uns umgeben, wenn wir „Heimat“ fühlen,
wenn wir geborgen sind, auch Mutter Erde
ist unsere Erfindung, Findung. Finde
du mir die Steine, die noch fehlen, wieder.